MORAL

Fleisch 69, Herbst 2023 
Text: Marie Kreutzer                            

Marie Kreutzer wollte eigentlich Schriftstellerin werden. Sie hat zwei Romane geschrieben, die weder fertig noch veröffentlicht wurden. So fängt einer von ihnen an.

„Warum“, fragt Konstantin, die sandige Hinterseite seiner kurzen Beine an der schwarzen Kordel reibend, die zwischen den in den Sand gesteckten Holzpfosten lose gespannt ist, „ist daneben gleich die nächste Herde?“ 

Ursel muss lachen und ist sich, halb beschämt, halb stolz, ihrer Privilegiertheit bewusst, zu der Herde zwischen den schwarzen Kordeln zu gehören, wo die Sonnenschirme aus dezentem Korbgeflecht und die einheitlich cremeweißen Badetücher mit Hotel Elite****Superior-Stickerei auf komfortablen Liegen ausgebreitet sind. Jenseits der Kordel posen gut unter den Bund ihrer knappen Badeslips gebräunte Heteroitaliener mit verspiegelten Sonnenbrillen, chinesische Schriftzeichen oder die Vornamen ihrer Kinder auf die muskulösen Arme tätowiert, vor ihren Frauen. Ihren eigenen Frauen, wohlgemerkt, was Ursel schön findet. Die Frauen sind sichtbar vierzig. Sie sind blondiert und braun wie Croissants, sie tragen Bikinis mit Pailetten, dazwischen kleine, schwabbelige Speckrollen, sie rauchen und trinken Lemonsoda, packen die Kinder grob in billige Handtücher mit Disneyaufdrucken und klapsen ihnen auf den Hintern und lachen zu laut. Ursel ist italienerinnenfasziniert.  

Die Italienerinnen diesseits der Kordel werden von Männern in Poloshirts begleitet, die Herrenhandtaschen mit Vuitton-Logos tragen und Aperol trinken und sich nur kurz am Strand aufhalten, ein paar Worte miteinander wechseln und dann wieder verschwinden, wohin, weiß Ursel nicht, wahrscheinlich vermehren sie ihr Geld, bevor sie frisch parfümiert in der rosaroten Abendstimmung zu den Antipasti erscheinen. Die diesseitigen Italienerinnen schleppen träge in teuren Bikinis ihre gut erhaltenen Körper zur Liege, wo sie mit großen iPhones telefonieren, sie haben zwanzig einheitlich primärrot lackierte Nägel und tragen Schmuck, immer, überall, Ringe, mehrere, Armbänder, ernsthafte aus Gold und verspielte bunte mit glitzernden Anhängern, sie lächeln die Kinder mit automatischer Freundlichkeit an und ignorieren die Welt jenseits der Kordel, auch das Meer, es ist notwendig, direkt am Meer und mit Balkon zum Meer zu urlauben, es ist aber nicht notwendig, es auch anzuschauen.  

Ursels Tante Elena, die Inhaberin und Seele des Hotel Elite****Superior, wechselt zweimal täglich ihre Garderobe und betritt den Strand nie. Sie ist die eleganteste aller Italienerinnen, ein bisschen schrill gelegentlich, gestern Abend in einem mit blauen Federn über und über besetzten Minikleid, das Nena dauernd berühren wollte, und auf sehr, sehr hohen Absätzen. Aber Ursel hat die Selbstverständlichkeit und Überlegenheit, mit der die Italienerinnen ihre Federkleider und Bikinis und blondierten Haare und großen Schmuckstücke tragen, schon immer bestaunt. Was die österreichische Frau ein bisschen linkisch trägt, sich der Repräsentierfähigkeit des eigenen Körpers immer unsicher, steht Tante Elena und der Proloitalienerin jenseits der Kordel quasi kraft ihrer absoluten Selbstsicherheit. Ursel ist ein bisschen verliebt in jede Italienerin. Auch in die Kioskfrau in der zu knappen Jeansshorts und der Schürze mit Totenkopfmuster, bei der Ursel Eis und Mineralwasser und um zehn nach fünf endlich einen Aperol Spritz con Prosecco kauft. 

Ursel lässt der Tussi in sich selbst freien Lauf, weil Fanny noch nicht da ist. Vor Fanny trinkt Ursel kaltes Moretti aus der Nulldreiflasche. Wenn Fanny fehlt und damit die Weiblichkeit unterrepräsentiert ist, ist Ursel mehr Mädchen. Sie hat sich sogar von Nena die Zehennägel lackieren lassen und wackelt jetzt mit den Zehen, die fast ein bisschen italienisch aussehen, während sie den Fuß des kalten Weinglases auf ihren Nabel drückt. Sie hat heute Fannys Bikini an. Selbst besitzt sie nur Einteiler, die sportliche Variante. Ursel ist der Mann in der Beziehung. Der Hausmann.  

Wenn Fanny kommt, wird Ursel ihre Schuldgefühle für sich ausnutzen, aber solange Fanny noch nicht da ist und das Handy im Zimmer liegt und Ursel am Strand nicht erreichbar Aperol trinkt und Krimis liest und die Kinder zu viel Eis essen lässt, findet Ursel es, ehrlich, sogar schöner so. Fanny hat keine Ruhe. Nie. Mit Fanny fällt sie außerdem auf. Nicht dass Tante Elena das stört, Tante Elena liebt Ursel auf eine etwas überhebliche Art und findet ihr Lesbenleben originell und reserviert ihnen immer einen schönen, gut sichtbaren Tisch in der Mitte, an dem sie dann während des Essens vorbeiflaniert und die Kinder tätschelt und fragt, ob Fanny noch Wein will, und dann mit einer gereizten und gleichzeitig unendlich lässigen Geste Marco herbeiwinkt, um nachschenken zu lassen, was Fanny selbst könnte. Aber Ursel stört das Auffallen, in Wien fallen sie überhaupt nicht auf. In Tante Elenas Hotel, das die mondänen siebziger Jahre atmet, in dessen klimatisiertem Foyer mit den tiefen weißen Fauteuils italienische Versionen von Sinatra-Schlagern gespielt werden und Stammgäste mit zu viel Geld Strandtücher nachbestellen oder ihre Autos umparken lassen, wie sie es seit vierzig Jahren um diese Jahreszeit tun, da ist es ungewöhnlich, wenn eine Frau, die ein bisschen wie ein Bub ausschaut, wenn das zu breite Becken nicht wäre, zwei Kinder zur Tür hereintreibt und hinter ihr eine relativ attraktive normale Frau, die es mit der Maniküre nicht so genau nimmt und immer ein bisschen gestresst wirkt, hereinstolpert und die Kreditkarte auf den Tresen legt und in fließendem Italienisch mit der Rezeptionistin das Autoparken bespricht.  

Nach dem Aperol, die Sonne ist am schönsten um diese Zeit, das Licht weich und golden, spült Ursel die Sandspielsachen im seichten Wasser und hängt sie im triefenden Eimer am Haken unter dem Sonnenschirm auf, sie faltet die feucht gewordenen dicken Strandhandtücher und wirft das Eispapier weg und bringt das leere Glas und den leeren Chipskorb zu der Kioskfrau in Shorts, die ihr immer besser gefällt, auch wenn sie ein bisschen Prolo ist mit ihrem blondierten Undercut und den Tattoos, chinesische Schriftzeichen, was sonst. Dann sammelt sie die Kinder ein, deren Haare strähnig und kraus sind von Sand und Salz und deren Füße nur mehr widerwillig den Weg in die Crocs finden, obwohl sie jede Müdigkeit abstreiten. 

„Aber ohne Haarewaschen“, murmelt Konstantin matt, der schnell Routine gewordenen Abläufe gewahr, worauf Ursel vollautomatisch antwortet: „Mit Taucherbrille.“  

Nena nimmt an dem weiß lackierten Türchen, das den Privatstrand mit dem Garten des Hotels verbindet, Haltung an, das Bikinitop ist wie immer in ihrem Rücken, den Ursel voller beschwipster Liebe betrachtet, ein bisschen verdreht, weil es ja auch noch nicht viel zu tun hat an diesem neunjährigen Oberkörper. Am Pool, wie immer um diese Zeit, die bequemeren, die österreichischen Väter in karierten Badeshorts mit beschlagenen Biergläsern, die Alte mit dem Rollator und einem gemusterten Kaftan und daneben der Grund für Nenas Körperspannung, ein Rudel dreizehnjähriger Burschen aus gutem Haus, die auf Italienisch ein bisschen zu laut reden und lachen und den dritten Magnum Double Chocolate verschlingen. Kellner, die sich alle sehr ähnlich sehen, decken lautlos die Tische für das Abendessen.  

Elena öffnet die Tür aus dem Foyer in den Garten, sie ist bereits für den Abend angezogen, gemusterte Seide und Wildledersandalen mit zwölf Zentimeter hohen Absätzen, und sie scheint jemandem die Tür aufzuhalten, und als sie Ursel sieht, winkt sie mit klirrenden Armreifen. Fanny erscheint in der Tür, abgekämpft, die Ray Ban verrutscht zu tief auf der Nase, obendrein ist es nicht mehr so hell, dass sie sie bräuchte. Konstantin beginnt zu rennen, und Eifersucht durchschießt Ursel. Diese heiße, innige Liebe zu der immer abwesenden, sich immer entziehenden Fanny, sie hat sie ja selbst lang empfunden, aber sie gönnt sie ihr nicht mehr, nicht die der Kinder. Absurderweise kreuzt in diesem Moment – Ursel ist stehen geblieben, intuitiv wahrscheinlich – ein Mann unscharf ihren Blick, er ist gerade aus dem Pool geklettert und trägt gestreifte Badeshorts und schaut genau aus wie Christian Petzold, und Ursel, die Christian Petzold verehrt, durchzuckt es gleichzeitig aufgeregt und peinlich berührt, weil das Hotel so ein unendlich altmodischer, konservativer, protziger Ort ist, dem sie sich immer ein wenig überlegen fühlt, und weil Christian Petzold sie hier nicht sehen soll, aber er kennt sie ja gar nicht, und außerdem ist er ja selbst hier, und im nächsten Moment durchzuckt sie der nächste, pragmatische Gedanke: Auch Christian Petzold muss irgendwo Urlaub machen. Sie dreht den Kopf und schaut ihm nach und erkennt zuerst an den Badeshorts, dass es unmöglich Petzold sein kann. So eine Logoscheiße mit Polospieler und pfirsichfarbenen Streifen würde er doch niemals anziehen. 

Er nimmt ein Handtuch und dreht sich im Abtrocknen ein bisschen um und ist nur ein ganz normaler österreichischer Urlauber mit einer teuren Uhr.

Ein bisschen enttäuscht und ein bisschen erleichtert schaut Ursel wieder zu Fanny, die jetzt endlich die Ray Ban abgenommen hat und über Nenas Kopf zu ihr schaut und ein bisschen schuldbewusst aussieht.

Fanny besitzt eine Reisewaage, worüber Ursel sich gerne lustig macht, über die sie aber ganz froh war in den letzten Tagen, in denen Fannys Koffer schon mit war, Fanny aber noch nicht. Ursel hat bereits null Komma sieben Kilo zugenommen, was okay ist, aber auch ein Grund zur Vorsicht. Ursels ganzes Auftreten lebt davon, dass sie völlig uneitel wirkt, ganz wie ein junger Mann, der nie über sein Aussehen oder seine Figur oder seine Kleidung nachdenkt. Natürlich wäre es mit 42 Jahren in der Realität so, dass Ursel, wenn sie über all dies nie nachdenken würde, fett, ungepflegt und unvorteilhaft gekleidet wäre. Daher besteht die Kunst darin, sich zwar nicht gehen zu lassen, aber lässig und unreflektiert und sorglos dabei zu wirken. Ursels Hosen und Hemden und Jacken und flache Schuhe sind hochwertig und immer schwarz oder weiß, und sie geht nicht dreimal in der Woche laufen, weil sie es „braucht für den Ausgleich“. Ihre Haare trägt sie in einem immer ganz leicht herausgewachsenen Undercut, der eben nicht wirkt wie frisch vom Friseur und der es ihr ermöglicht, die knapp kinnlangen oberen Haare auf verschiedene Arten beiläufig ins Gesicht fallen oder hinausstreichen zu können. Ihre Haut ist sehr gepflegt und ihre dichten Augenbrauen wirken nur ungezupft. Sie sitzt, die Beine in den ausnahmsweise hellgrauen Anzughosen übereinander geschlagen, sodass der Stoff über ihre gebräunten Fesseln hochrutscht, zurückgelehnt am Tisch und dreht ein halbvolles Glas Rosé in der Hand, während Fanny ein bisschen angestrengt mit Tante Elena spricht, die sich niemals setzt, sodass Fanny zu ihr aufblicken muss, was Fanny, die selbst eine Chefin ist, nur schwer erträgt. Fanny findet Elenas Gehabe unendlich albern und versteckt das mit viel Aufwand, was Ursel erbärmlich findet. Als Elena weggeht, sagt Ursel in den ersten Moment erschöpften Schweigens hinein: „Du übertreibst beim Lügen.“

Fannys Blick streift Ursel, dann nimmt sie einen Schluck Wein und antwortet: „Ich kann ihr ja nicht sagen, dass mich ihr Geschwätz nicht interessiert.“ „Warum nicht?“, fragt Ursel.

„Na ja, sie ist deine Tante. Obwohl ich nicht glaube, dass das wirklich Familienrabatt ist. Das Zimmer ist lächerlich.“

„Das ist so in Italien“, sagt Ursel automatisch und hat ganz unbeabsichtigt ihre Mutter kopiert, die Elenas Cousine ist und gegen den Widerstand von Ursels Vater fast jeden Sommer einen Urlaub hier durchgesetzt hat, so wie Ursel es jetzt tut. (Genau wie Fanny hat Ursels Vater, der alte Hippie, sich dem Publikum hier überlegen gefühlt. Auch Ursel  fühlt sich überlegen, auch Ursel findet, dass große BMWs und eingestickte ****Superior auf Handtüchern und zu Mittag in die Weinkarte zu schauen irgendwie peinlich sind, und trotzdem mag sie diesen Ort einfach, sie mag Rituale, und sie mag Tante Elena.)

Der Hauptgang kommt, die Kinder sind schon lang verschwunden, ihre Pizza ist gleichzeitig mit dem Entrée serviert worden und liegt halb gegessen neben unbenutzten Stoffservietten. Luigi fragt freundlich, ob „die Schatzis“ fertig seien, und Fanny sagt übertrieben liebenswürdig „grazie“, als er die Pizzateller fortnimmt. Sie essen schweigend ihre Goldbrasse mit Polenta, wobei Fanny die Polenta  weglässt, dafür aber so viel Wein trinkt, dass es Ursel auf der Zunge brennt zu sagen, dass Alkohol auch Kohlenhydrate hat.

Ursel weiß, dass es ihr letzter Urlaub zusammen ist. Sie fühlt sich gleichzeitig mächtig und leichtsinnig. Fanny rechnet nicht damit, sie ist immer die Mächtigere gewesen. Es bereitet Ursel eine kindische Freude, zu wissen, dass sie es sein wird, die diese Beziehung beendet. Gleichzeitig überschlagen sich sämtliche Stimmen der Vernunft in ihr. Sie haben zwei Kinder zusammen. Sie haben ein Haus, das erst vor vierzehn Monaten fertig geworden ist, sie haben noch nicht einmal die richtigen Sitzmöbel für die Terrasse gefunden, weil sie beide so wählerisch sind und beide so einen teuren Geschmack haben, klagen sie ihren Freunden, die dabei auf Klappsesseln sitzen und Spritzer trinken. In Wirklichkeit stimmt das nicht, Ursel hat den Geschmack, Fanny hat nur keine Zeit. Es ist ihr scheißegal, worauf sie beim Essen sitzen. Sie macht sich über die anachronistische Mondänität des Hotels lustig, weil sie den Individualtourismus verherrlicht, hat aber noch nie einen ihrer Urlaube geplant. Sie hat das Haus bezahlt, sich aber von Ursel, die es mit Johann geplant hat, „überraschen lassen“, ob die Wohnküche nach Westen oder Süden ausgerichtet und in welchem Stein die Fassade verkleidet wird. Fanny hat von ihrem gemeinsamen Leben keine Ahnung.

Als sie sich in ihre zwei italienischen, also sehr, sehr kleinen Hotelzimmer mit der Verbindungstür, die offen bleiben muss, damit Konstantin beim Einschlafen ihr Licht sehen und sie hören kann, und den gemusterten und geschwungenen Betthäuptern und Gardinen und gerahmten Kreidezeichnungen von Venedig verstaut haben und im Bett liegen, betrachtet Fanny kurz Ursels Zehennägel und lächelt über deren Farbe und scheint etwas sagen zu wollen, aber Ursel versenkt ihre Nase sehr tief in einem Roman, der im Berlin der 1930er-Jahre spielt, und tut so, als wäre es das fesselndste Buch aller Zeiten. Und Fanny, die erschöpft ist von Wien-Düsseldorf-Berlin-Wien-Venedig und einer Taxifahrt nach Jesolo in einem überklimatisierten Taxi, alles nur, um bei ihrer Familie zu sein, die ohne sie bestens zurechtgekommen ist, Fanny also wirkt erleichtert, dass nicht mehr geredet werden muss, und rollt sich auf der fensterseitigen Bettseite zusammen und drängt sich nahe an Ursels von der Sonne aufgeheizten Rücken und seufzt zufrieden und haucht ein „Schlaf gut“ und scheint augenblicklich gut zu schlafen. Und Ursel liest noch zwölf Seiten, aus Prinzip, in Wirklichkeit ist sie viel müder, weil Kinder auch Arbeit sind. Ein von Fanny belächelter Fakt. Für Fanny ist nur ihre Arbeit echte Arbeit. Und das ist letztlich der Grund, warum Ursel Fanny nicht mehr liebt.

Das Haus steht am Rand von Klosterneuburg. Wenn sie in Jesolo oder anderswo gefragt werden, sagen sie Wien, aber Klosterneuburg ist nicht Wien. Klosterneuburg ist, wohin man sich zurückzieht, wenn man Haus und Garten will und dafür genug Geld vorhanden ist und wenn man noch Wien sagen können will, weil man ja jederzeit in zwanzig Minuten in Wien sein kann. Das kann man, wenn der Verkehr stimmt und die Uhrzeit und alles, aber da eben trotzdem alles stimmen muss und man das nie wissen kann und es mit den Parkplätzen immer mühselig ist, bleibt man sehr, sehr oft einfach in Klosterneuburg. Man hat dort ohnehin alles. Die Nachbarin hat den Briefkasten für sie ausgeleert. Fanny deaktiviert die Alarmanlage, und Ursel trägt das Gepäck ins Haus. Fanny schaut auf die Uhr und stellt Überlegungen an, ob noch etwas einzukaufen sei. Ursel lässt sie reden. Morgen, denkt sie, wirst du deine laktosefreie Milch alleine trinken. Sie stellt die Waschmaschine auf Eco und schüttet Biowaschmittel hinein und klappt vorsorglich schon zwei Wäscheständer auf und bezieht die Betten frisch, schweigend und sorgfältig. In Nenas Zimmer verlässt sie für einen Moment der Mut. Auf dem Tisch liegen angekaute Stifte und ein kirschroter MP3-Player, den Nena vergessen hat nach Italien mitzunehmen, was Ursel schon beim Knoten Seebenstein fast veranlasst hätte umzudrehen, den schweren Blick voller dramatisierter Langeweile voraussehend. Leider hatte sie nicht umgedreht. Sie nimmt den MP3-Player und setzt sich die Kopfhörer auf und drückt auf „Play“. Sie erwartet Plastikmusik und ist so davon geschockt, „Yellow Submarine“ zu hören, Nenas altes Lieblingslied aus der Kindergartenzeit, das beide Kinder auswendig singen können, dass sie sich aufs Bett setzen muss und spürt, wie ihr Tränen übers Gesicht laufen. Sie weint kurz und lautlos, dann zwingt sie sich aufzuhören und verspricht sich selbst, dass sie noch so viel weinen darf, wie sie will, wenn der Verlust nicht mehr vor ihr liegt und sie zur Pragmatik zwingt, sondern vollzogen ist und verarbeitet werden muss.

Sie steckt den MP3-Player in die Hosentasche, breitet die Tagesdecke über das frisch bezogene Bett und streicht sehr zärtlich über den Polster. Leinen, gebrochenes Weiß. Ursel hat eine Schwäche für hochwertige Stoffe. Es gibt im ganzen Haus kein billiges Geschirrtuch. Das ist fast krankhaft, es war jedenfalls ein Alarmsignal, als sie vor ein paar Wochen um drei Uhr früh online um sechshundertzweiundzwanzig Euro bei Urbanara eingekauft und beschwingt den Laptop zugeklappt hatte, weil sie den zwölf Stunden gültigen Sonderrabatt für „Treuekunden“ erwischt hatte. Sie hatte ihr Spiegelbild in der Terrassentür grinsen sehen und war sitzen geblieben, das Bild, das die Terrassentür vor der Schwärze des Gartens wiedergab, betrachtend wie ein Stillleben in Cinemascope, die aufgeräumte Küche, der lange Holztisch, die tief hängende Lampe, Blumen in der Vase, das leere Weinglas und sie selbst, im Pyjama (50% Leinen, 50% Baumwolle), deren Grinsen verblasste. Es war sehr still im Haus. Schlafende Kinder sind so still, dass man Angst kriegen könnte. Und diese Straße. Carports und Alarmanlagen und Pools, durch die der Reinigungsroboter kriecht. Der Geschirrspüler, Bauknecht, verrät nur durch ein kleines blaues Licht, das nach unten strahlt, also einen kleinen blauen Lichtpunkt am Boden, dass er gerade Geschirr wäscht, es ist nicht zu hören, gar nicht.

Sie hatte nicht erst in dieser Nacht gewusst, dass es Zeit war.

Die anderen Hausmänner sind Hausfrauen. Sie begegnen Ursel wohlerzogen, mit Neugier, mit Smalltalk. Sie laden sie mit den Kindern ein. Sie suchen nach Gemeinsamkeiten, und sie lieben es, wenn Ursel, während sie beim Prosecco mit einer Mischung aus 18% ehrlicher Enttäuschung – die sie nicht zugeben würden – und 72% kokettem Spott von den Unzulänglichkeiten ihrer Männer reden und gleichzeitig mit ihnen angeben, wenn also Ursel irgendwann von Fanny genauso spricht. Sie kommen sich modern und offen vor, weil sie Ursel dabeihaben, und sie glauben keinen Moment, dass Ursels Leben so ist wie ihres. Aber sie mögen es, wenn sie so tut.

Ursel fragt sich, ob Fanny dann bei ihnen Prosecco trinken wird. Fanny ist die Opportunistin. Fanny will gefallen, ohne aufzufallen. Sie will dazugehören, auch wenn sie immer so tut, als könnte sie nicht mithalten, und eigentlich meint, dass sie besser ist. Fanny ist kompliziert, dachte Ursel früher. Fanny ist so schlicht, denkt sie heute. Das einzig Komplizierte an Fanny ist ihr Terminkalender.

Ursel bezieht das Doppelbett. Sie nimmt das grau gestreifte Leinen, von dem Fanny gesagt hat, dass es schön ist. Alles ist gebügelt, bei Leinen ist das wichtig. Man darf es nicht zu heiß waschen, nur milde Waschmittel ohne Bleiche verwenden, es nicht in den Trockner geben, und man muss es bügeln, solange es noch feucht ist. Dafür gibt es Nevena aus Serbien, die das mittlerweile sehr ordentlich macht und die von Ursel als Einzige schon ein bisschen vorgewarnt wurde: „Es kann sein, Nevena, dass wir dich ab September mehr brauchen.“

Fannys Hilflosigkeit in den Fragen des Alltags beschäftigt Ursel. Wie soll Fanny zwei Kinder und sich selbst versorgen, vom Haus ganz zu schweigen, es macht ihr Sorgen und bereitet ihr gleichzeitig Freude, eine böse Freude, weil Fanny dann sehen wird, dass das, was sie gar nicht wahrnimmt, wahnsinnig viel ist. Dass jedes gefaltete Handtuch, jede Portion Basmatireis mit Safran, jeder durch einen neuen Gegenstand ausgetauschte defekte Gegenstand, dass der neutrale Geruch des Kühlschranks und die richtige Einstellung der Terrassenbeleuchtung und die immer wieder ausgepackten und verstauten Koffer/Badetaschen/Einkaufskörbe/Putzereisackerln und Jausenboxen aus Edelstahl oder plastikfreiem Plastik etwas sind, das mit Aufwand zu tun hat.

Ursel ist das eigene innere Jammern so leid, dass sie, als das Bett bezogen ist, ins Bad geht und sich die Zähne putzt, um den üblen Geschmack des Ungesagten und des zu oft Gesagten und nie richtig Gehörten loszuwerden.

Dann bringt Fanny Einkäufe und wirkt gleichzeitig fahrig und gut gelaunt, was Ursel verunsichert, und beginnt zu kochen, was nicht sehr häufig vorkommt, und will Ursel Wein einschenken, die sagt, dass sie eine Alkoholpause braucht, worauf Fanny fröhlich antwortet: „Aber doch nicht heute.“

Und Ursel denkt, das könnte allerdings stimmen, dass heute dafür kein guter Tag ist.

Erschienen im Herbst 2023. Fleisch 68 – Marie Kreutzer – ist bestellbar im Abo oder als Einzelheft unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! 

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