Der Löwe an mir

Spaß, Schweiß, Schwindel: Ein Match als Austria-Maskottchen Leo Veilchen.

Fleisch 74, Frühling 2025
Text: Christoph Wagner
Fotos: Daniel Shaked

Ich trage Fell, habe einen Schwanz (lang, anmutig, nur per Hand steuerbar) und die Rückennummer 12. Ich bin Leo Veilchen, eines von zwei offiziellen Maskottchen der Wiener Austria. Und ich kann nichts sehen. Also, wirklich: nichts. Ohne mit meiner Pratze das Kinn dieses gigantischen, vermutlich in den frühen 2000ern ergonomisch konzipierten Löwenkopfs anzuheben, sehe ich ausschließlich Schuhe. Was ungünstig ist, weil die Menschen vor dem Stadion schon nach mir rufen: LEOOOOOO! Ein Laut, irgendwo zwischen Aufforderung und Anrufung. Also winke ich. Dann klatsche ich. Dann winke ich erneut. Und dann klatsche ich wieder. Ich beginne zu begreifen: So wird das die nächsten Stunden und nicht anders.

Der Weg vom Menschen zum Löwen führt über mehrere Schichten: Um zu Leo Veilchen zu werden, bin ich zuerst in einen Ganzkörperanzug aus Polyehtylenirgendwas gestiegen und in übergroße Patschen in Pfotenform, die überraschend komfortabel sind, ich habe mir noch Tatzen übergezogen und schlussendlich diesen überdimensionalen, schweren Löwenkopf aufgesetzt. Der darin verschraubte Helm sollte eigentlich gewährleisten, dass das Ding schmerzlos auf meinem Kopf hält. Das funktioniert leider nicht so gut. Dafür umschlingt mich das Austria-Trikot in Größe DOPPEL-XL wie ein zu enges Versprechen, dass eh alles lustig wird. Der Mitarbeiter, der mir beim Anziehen hilft, nennt das Ergebnis „presswurstig“.

Zweieinhalb Stunden vor Anpfiff. Meine Mission: laufen, winken, tanzen, schwitzen, überleben. Aber auch: schweigen. Das ist die wichtigste Regel, sagte man mir. Leo Veilchen spricht nicht. Er drückt sich aus durch Gesten, Bewegungen, mimische Andeutungen, was als Strukturmerkmal der Rolle paradox ist, wenn man bedenkt, dass das Gesicht, also mein eigentliches, komplett in einer dämpfenden Plüschdunkelheit verschwindet. Zugegeben, ich hatte mit mehr Regeln gerechnet. Immerhin wurde Super Leo, das andere Austria-Maskottchen, einst weltberühmt, weil er besoffen über das Spielfeld torkelte. Ein Löwe im Rausch, die Bilder sind noch im Netz. Aber Alkohol war kein Thema. Die Maßgabe für mich: kein Wort, kein Wünscheausschlagen, keine Obszönitäten. Ich solle, wenn‘s geht, „nicht den Hedl machen“ und mir auf die Löwen-Eier greifen. (Wer’s nicht mitbekommen hat: „Niklas Hedl Strafsenat“ googeln.)

Kein Problem. Das Kostüm, beruhigend schwer, verhindert ohnehin jede Feinmotorik. Es ist eher gebaut für Grobhumor und Nackenschmerzen. Und auch die Sinne verweigern darin das Zusammenspiel. Die visuelle Situation im Inneren des Kostüms lässt sich mit dem Begriff „Sensorische Dissoziation im Plüschpanzer“ beschreiben: Man sieht mehr von den Innenzähnen der eigenen Löwenschnauze als von der Welt. Auch akustisch dringt alles nur gefiltert durch, so als würden alle in einen feuchten Waschlappen quatschen. Das einzig Reale ist: die Hitze. Diese infernalische, organisch pulsierende Hitze. Ich bin noch keine Stunde in dem Ding, mein Körper hat sich aber bereits in eine biologische Dampfkammer verwandelt. Es hat sechs Grad draußen, wir sind ja auch am Verteilerkreis in Favoriten, mein Kopf aber denkt, ich sei irgendwo zwischen Mumbai und Vulkanmitte. 

Alle paar Sekunden: „Leo, moch ma a Foto?“ Und ich: Winken. Hocken. Posieren. Ich bin der Boba Fett der Austria, aber statt einer Laserwaffe hab ich einen toten Blick unter dem Ausdrucksgesicht aus Schaumstoff.

Es ist sieben am Abend, noch eineinhalb Stunden, bis es losgeht. Ich stapfe über den Ost-Vorplatz, wo sich in einer Ecke ein DJ positioniert hat, dessen Instagram verrät, dass er sich auf Hochzeiten, Firmen-Events und Weihnachtsfeiern spezialisiert hat. Und wahrscheinlich auch auf alle anderen seelischen Zwischenzustände. Orientierung? Habe ich mit dem Kopf keine. Alles springt mir unvermittelt in den Weg.

Eine Bierbank, eine Schulter, ein Poller. Aua.

Eine Gruppe Männer in schwarzen North-Face-Jacken – vielleicht auch aua.

Kleinkinder. Für sie, wenn ich nicht aufpasse, definitiv: aua.

Und doch – zwischen all dem Chaos: Freude. Echte, ungefilterte Freude. Menschen lächeln mich an, sie wollen Fotos, Umarmungen, Nähe. Ein Mann mit zwei Puntigamern erzählt nostalgisch-betrunken, dass er vor zwanzig Jahren ich war. Also: Leo Veilchen. 

Ich tanze mit dem DJ (symbolisch). Ich winke zwei Damen, die ihre Kampfhunde ausführen (vorsichtig). Zwei Kinder fragen mich nach meinem Religionsbekenntnis (nicht symbolisch). Eine Frau mit violetter Strähne greift mir beim Selfie-machen an den Hintern. Übergriff und anthropologische Erfahrung? Egal, ich kann nicht protestieren. Ich darf nicht sprechen. Ich tanze zu „Don’t Stop Me Now“. Nicht unbedingt, weil ich es will oder ein guter Tänzer bin, sondern weil es erwartet wird. 

Es dämmert. LEOOOO, MOCH MA A FOTO? Ich nicke viel an diesem Tag. Auch wenn das Helminnenleben beim Nicken regelmäßig an mein Nasenbein schlägt und ich nicht sicher bin, ob ich überhaupt noch aufrecht stehe oder einfach langsam nach vorne kippe.

Mit der Dunkelheit kommt der Kontrollverlust. Die Sicht? Nun endgültig metaphorisch. Und mit steigendem Alkoholpegel der Zuschauer:innen wächst ihr Bedürfnis, mir körperlich näher zu kommen. Das Problem ist: Mir geht es gerade nicht so gut. Mir ist heiß, ich habe Durst und fühle etwas, das Soziolog:innen als Interaktionsermüdung beschreiben. Soll heißen: Ich bin ansprechbar, aber nicht erreichbar. Da, aber nicht mehr ganz. Und schwindelig ist mir auch.

Ich flüchte um die Ecke. Dort warten aber die Kinder von vorhin. Sie wollen das mit dem Religionsbekenntnis klären. Wenn ich nicht reden wolle, sagen sie, soll ich wenigstens nonverbal antworten: Faust = Moslem, offene Tatze = Christ.

Ich verweigere mich, sie packen zu. Der eine zerrt an meinem Kinn, der andere fummelt an meinem Bauch. Ich winke mich frei. Ich fliehe. Und lebe. 

Im Stadion laufe ich durch die Katakomben – und werde beinahe von einer Kiste Riesenbrezen überrollt. Ich biege ab zum Spielfeldrand. Der schmale Streifen zwischen Rasen und Osttribüne, also direkt vor der Kurve der Austria-Ultras, den Hardcore-Fans der Mannschaft, ist mein Spaß-Bereich. Es ist trotz dumpfer Helm-Akustik sehr, sehr laut, gefühlt 30 Dezibel über jedem erträglichen Grenzwert. Papier fliegt durch die Gegend, ich versuche, den Löwenkopf nach oben zu drücken, will erschielen können, wer da aller ist. Die Fans singen SCHIESST EIN TOR FÜR UUUUUUNS. Ich habe kleinere Wünsche. Zum Beispiel, dass mir jemand diesen verdammten Kopf abnimmt. Stattdessen: Klatschen. Drehen. Pfoten in die Luft.

In der zweiten Halbzeit steht plötzlich „Super Leo“, der andere Austria-Löwe, vor mir. Ich mustere ihn: Blonde Mähne, blaue Augen, violette Maske und dazu passende Speedo. Ein Cape, das im Wind weht. Er sieht aus wie ein Held, wie ein Maskottchen, das ich nie sein werde. Anmutig. Elegant. Dynamisch. Er ist der Löwe in Idealform, ich der Schweiß darunter. Er springt, ohne zu zittern. Hebt den Finger, wo ich nur wedeln kann. Scheiß drauf: Wir klatschen ab. Wir drehen uns. Wir jubeln gemeinsam.

Da sind wir nun, zwei Löwen, zwei Versionen derselben Idee. Es ist fast schön. Surreal, aber schön. Wir haben uns davor nicht getroffen. Ich weiß nicht, wer er ist. Er weiß nicht, wer ich bin. Gut möglich, dass wir uns gerade gegenseitig auf die Bäuche starren. Seine Kleidung spannt, meine auch. Bei mir steht vorne drauf: „Frank Stahl“. Ein perfekter Tarnname für jemanden, der im Inneren langsam zusammenbricht. Weiter drüben werden rote  Nebelraketen gezündet. 

Die Gegner haben auf ihren Trikots mehr Sponsoren als das News-Magazin Mitarbeiter:innen. Ich merke, dass meine Nackenmuskulatur der Last des Kopfes nichts mehr entgegenzusetzen hat, und beginne, die Werbelogos zu zählen – als wäre das ein Mantra, das den Schmerz übertönen kann. Dann stapfe ich noch eine Runde die Osttribüne entlang, weil ich irgendwo gelesen habe, dass die Psyche Schmerz in Bewegung besser verarbeitet.

Auf der anderen Seite des Stadions fällt ein Tor. Bloß nicht für uns. Ich mache das, was der Fanbeauftragte der Austria von mir wollte: Ich greife mir mit den Pfoten fassungslos an die Ohren, trotte mit hängendem Kopf auf und ab. „Super Leo“, heißt es später, hat drei Jahre Maskottchen-Erfahrung. Und spätestens jetzt merkt man das wirklich. Er wirft sich dramatisch über die Bande, hängt dort, minutenlang, reglos wie ein Schal auf der Leine. Dann steht er wieder auf. Klatscht. Hüpft. Klatscht. Hüpft.

Nieselregen. Innen Sauna, außen feucht. Gleich ist das Spiel vorbei. Ein Austria-Spieler legt sich den Ball zum Freistoß zurecht. Ich versuche per Gedankenkraft, den Ball über das gegnerische Tor zu lenken. Ich will keine Verlängerung. Bitte nicht noch dreißig Minuten. Mich juckt es überall. Von der Wade bis zum Ohrläppchen. Mein Inneres rebelliert. Ich will raus. Raus aus dem Kostüm. Raus aus diesem Tier. Ich will meine Kopfhaut wieder spüren. Ich will kein Löwe mehr sein. Der Ball geht über das Tor. Abpfiff. Ich weiß nicht, ob ich gewonnen habe. Oder einfach überlebt.

In der Kabine, winke winke, treffe ich den Kollegen. Unter der Maske steckt ein junger Mann namens Andi. Er sagt, das Ding mit dem Nacken, da gewöhnt man sich dran. Ich denke: Vielleicht auch an alles andere.

Erschienen in Fleisch #74 - GANZ WIEN
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