Tauben zählen am Meiselmarkt

Fleisch 74, Frühling 2025
Text: Sebastian Huber
Fotos: Niko Havranek

Vielleicht ist Wien noch nicht Venedig, aber in puncto Tauben sind wir knapper dran, als wir denken. Deswegen wurden im März in Wien die Tauben gezählt. Unser Autor war dabei.

Die Taubenzählung der Stadt Wien ist so was Ähnliches wie der Vienna City Marathon, nur wichtiger und cooler. Man hetzt durch einen streng eingegrenzten Bereich, versucht, einen neuen Rekord aufzustellen, und wenn man es wirklich ernst meint, liegt man danach mit zuckenden Waden in der stabilen Seitenlage, lässt sich von einem Roten-Kreuz-Zivildiener mit Traubenzucker füttern und murmelt nur noch apathisch: „Ringeltaube, Ringeltaube, Ringeltaube.“

So hab ich mir das zumindest vorgestellt. Aber im Gegensatz zum Marathon ist gutes Wetter bei der Taubenzählung noch wichtiger. Und an diesem 14. März schüttet es den ganzen Tag. Um Punkt 16 Uhr erreichen meine Pacemakerin Laura und ich unser von der MA 49 zugewiesenes Einsatzgebiet: den Tauben-Hotspot rund um den Meiselmarkt. Der Himmel ist so cremiggrau wie die Gesichter in Roy Anderssons Film „Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“. 

Wir lauern vor dem rotbraunen Backsteinturm der Rudolfsheimer Pfarrkirche und hoffen darauf, dass er aus der Vogelperspektive aussieht wie ein riesiges Brot mit sehr viel Liptauer drauf und Tauben anlocken könnte. 

„Da“, sagt Laura. Eine Taube flattert am Kirchturm vorbei. Wir sind uns nicht sicher, ob wir sie zählen dürfen, und lesen im Taubenzähl-Guide der Stadt Wien nach: „Fliegende Tauben, die während der Zählung über oder an dem jeweiligen Bereich vorbeifliegen, werden nicht mitgezählt!“, heißt es darin. 

Wir lassen uns nicht entmutigen und suchen den Bereich rund um die Kirche ab. Nach zehn Minuten stehen wir immer noch bei null Tauben. Unsere Zählung darf nur exakt eine Stunde dauern, die Uhr tickt. Ich beginne zu zweifeln, ob nur der Regen der Grund für die Angst der Tauben vor ihrer Zählung ist. Was, wenn die Tauben von der Zählung wissen? Sie sind gut vernetzt in der ganzen Stadt. 

Außerdem sind sie sehr klug. In dem Podcast „Weird Animals“ erklärt Tierärztin Tereza Hossa, dass Tauben sogar den Spiegeltest bestehen und sich Gesichter merken können. Manche Renntauben sind sogar so begabt, dass Taubenzüchter:innen mit ihnen Millionen verdienen. Der ehemalige Fliesenleger Andreas Drapa aus Königsbach-Stein in Baden-Württemberg gilt als König der Tauben und verkauft Renntauben um Millionen nach China. 

16:15 Uhr, immer noch keine Taube, die Stimmung droht zu kippen. Wir wissen uns nicht mehr anders zu helfen und beginnen zu gurren. Es bringt nichts, keine einzige Taube lässt sich reinlegen.

Aber ich verstehe, dass sie sich nicht aus der Deckung wagen. Tauben haben es nicht leicht. Sie werden im öffentlichen Raum maximal als Mitbewohner geduldet, mit denen man ab und zu was isst und sich dabei anschweigt. Dann die Sache mit der Stadt-Wien-Werbung. „Wer Tauben füttert, füttert Ratten“, lautete der fragwürdige Slogan. Dazu die albtraumhafte Montage eines Rattenkopfes auf einem Taubenkörper. Die Montage hat sich tiefer in meine Amygdala gepickt als ein Taubenschnabel in ein Joseph-Brot. Was sollen sich Tauben denken, wenn sie an so einem Plakat vorbeigehen? Und dann noch die Sache mit der Spionage. Tauben wird auf Social Media seit längerem unterstellt, Drohnen der Regierung zu sein und die Bevölkerung auszuspionieren. Das würde ich auch persönlich nehmen.

16:30 Uhr. Rund um den Meiselmarkt ist keine einzige Taube zu sehen. Noch eine halbe Stunde. Wir gehen am Café Caché vorbei, in dem gerade jemand sinnlich in eine Galette mit Spiegelei schneidet, um uns psychisch zu brechen. Aber wir geben nicht auf. 

Dann endlich: Über dem Eingang zum Café Antique verstecken sich zwei Tauben. Wir nähern uns langsam und filmen sie. Das glaubt uns ja sonst keiner, dass wir wirklich zwei Tauben gesehen haben. Nur welche Taubenart ist es? Wir öffnen das Informationsblatt der MA 49, Laura liest vor: „Stadttaube: dunkles Auge und ‚freundliches‘ Gesicht. Rötlicher Schnabel mit heller Spitze. Gesang klagend, mehrfach wiederholt ‚drruO-u‘, oft etwas anschwellend.“ Wir haben tatsächlich zwei echte Stadttauben mit „freundlichem Gesicht“ gefunden.

Euphorisiert von dem großen Erfolg, marschieren wir weiter. Noch zehn Minuten, keine Krämpfe, da geht noch was. Wir biegen in die Wurmsergasse ein. Auf einer kleinen Grünfläche hinter zwei Glascontainern versteckt sich ein ganzer Taubenschwarm und pickt ins nasse Gras. Jaaaaaa! Wir pirschen uns an. „Stadttauben“, flüstert Laura sachkundig. „14 Stück!“ 

Das Endergebnis unserer Zählung: null Turteltauben, null Türkentauben, null Ringeltauben, null Hohltauben, 16 Stadttauben. Wir schlagen ein und gurren vor Freude, die 14 Stadttauben in der Wurmsergasse flattern irritiert davon, um in China Millionen zu verdienen oder was Tauben halt sonst so die ganze Zeit machen.

Erschienen in Fleisch #74 - GANZ WIEN
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