Mach mal Pause

Fleisch 74, Frühling 2025
Fotos: Niko Havranek

Im Keller des Westbahnhofs stehen ein paar öffentliche Massagesessel. Wer hier sitzt, muss gar nicht mehr weit reisen.

Es gibt keinen schöneren Bahnhof als den Wiener Westbahnhof, und zwar nirgends auf der Welt. Rechts und links Glas, vom Boden bis zur Decke. Man schaut hier schon aus dem Zug hinaus, bevor man überhaupt drinnen ist. Man spürt die fünfziger Jahre. Die Hoffnung.

Jeder Bahnhof ist ein Versprechen. Der Westbahnhof ist ein besonders schönes. Musste er auch sein, weil alles, was er halten konnte, entweder in Vorarlberg lag oder München war, heute oft nicht einmal mehr das. 

Früher: ein Bahnhof. Heute: ein IKEA genanntes Servietten- und Zimmerpflanzen-Fachgeschäft.

Früher: Sehnsucht. Heute: Amerikanischer Imperialismus aka Dunkin’ Donuts.

Früher: Orient-Express. Heute: „Ich geh noch kurz zum Eduscho.“ 

Aber die Welt ändert sich eben und das ist okay. Der Westbahnhof bleibt der einzige Wiener Bahnhof, an dem man am Freitag um zehn am Vormittag einem Mann - Haare grau, Jogginghose grau, Augen rot – dabei zuschauen kann, wie er „Heute“ liest, ein Desperados aus der Dose trinkt und dabei in einem Massagesessel sitzt. Zwei Euro, acht Minuten. Irgendwann schaut er nur noch geradeaus. Überlegt er, ob er etwas aus dem BillaPlus brauchen könnte? Wie das jetzt mit dem Dosenpfand ist? Oder muss er doch noch weg, zum Beispiel nach Tullnerfeld?

Zwei Massagesessel ein weiterer Mann. Sicher über 70, aber lässig. Auf seinem Kapperl steht „Toni Sailer“. Ganz tief lässt er sich in den Sessel sinken. Schließt die Augen. Hält die leere Plastikflasche fest, in der man beim BillaPlus den frisch gepressten Karottensaft bekommt. Bewegt sich nicht. Zuckt nur auf, als sich eine Frau Mitte dreißig auf den letzten freien Sessel setzt, weil sie gleich im Trainoffice in ihr Heimatbundesland zurückfahren wird, davor aber noch jemanden im tatsächlichen Office - „Du bist doch im Office! Du hast das doch zur Hand“ - zur Schnecke machen muss. Ihr Mann besorgt zwei Flaschen Green Smoothie. Westbahnfahrer. Scannerkasse kein Problem. 

Das hat auch der Security-Mann gleich erkannt. Seine Superkraft: Er weiß, wer sich das Zeug nicht selbst auschecken kann, und greift ein, bevor derjenige es beweisen muss. Das Auffälligste an ihm ist nicht seine neongelbe Warnweste, sondern dass er zur Blue Jeans, deren Form sein Hobby verrät (Fußballspielen), braune Budapester trägt. Der Westbahnhof früher: Schon auch ein bisschen Grandezza (Salzburg). Heute: Sneaker und Red Bull (Salzburg heute). Je länger wir zuschauen, was da so abgescannet wird, desto weniger ist klar, weshalb Mark Mateschitz nicht längst auch irgendwas ins All schießen will, nur um Geld zu verbrennen. Wobei, sein Vater hat das eh gemacht, leider ist Felix Baumgartner dann doch wieder zurückgekommen.

Dass die Frau im fuchsiafarbenen Kostüm inklusive Hut etwas Beistand an der Kasse braucht, erkennt der Security-Mann sofort. Beeindruckend, wie er das macht. Unaufdringlich. Er lässt sie die Notwendigkeit der fremden Hilfe selbst erkennen. Vielleicht ist er der Einzige hier, der noch so etwas wie Service bietet. Im Orient-Express von Agatha Christie gab es jedenfalls kein Selbstbedienungsrestaurant, das hätte die ganze Storyline ja auch zunichtegemacht.

Stück für Stück packt die elegante alte Frau Kohlrabi, Gurken, Dill und Schlagobers in ihren fuchsiafarbenen Einkaufstrolley. Eine Hand schiebt den Einkaufswagen, die andere zieht den Trolley, und irgendwie geht sich der Leki-Wanderstock auch noch aus. Zur Erholung: der Massagesessel. Sie überprüft die Rechnung. Schaut, ob die Rabatte abgezogen wurden. Und, ganz neu: das Pfand. Sie streicht die Rechnung glatt, faltet sie und steckt sie ins Portemonnaie. Ganz sicher würde sie Portemonnaie dazu sagen. Mit dreimal Schwungholen kommt sie wieder auf. 

Fast landet sie auf einem jungen Typen, der sich eine Leberkässemmel und ein Red Bull geholt hat. Natürlich übernimmt er ihren Massagesessel. In einer Situation wie seiner braucht man eigentlich drei Hände, weil ohne Handy kann jemand wie er nicht essen. Unmöglich. Er schaut sich die Sendung von Peter Klien an. Er ist also der Zuseher.

Auf die zwei freien Massagesessel setzen sich Freundinnen, die wirken, als hätten sie sich alles im Leben geteilt, in den 70ern sogar die Männer. Beide haben Handtaschen von Aigner und tragen sie wie Shoulder Bags. Sie versichern einander, dass sie fast nichts mehr einkaufen müssten für das Wochenende, weil sie ja ohnehin fast nichts mehr essen würden. „Auch besser so, bei diesen Preisen“, sagt die eine und die andere nickt. Sie tragen schwarze Bundfaltenhosen und gut gepflegte Lederschuhe. Im Kunstlicht des Westbahnhofbauchs dunkeln die Brillengläser der einen Frau nach. Ihre Freundin sagt: „Schaust aus, als wärst in Caorle.“ Sie kontert: „Und du wie in Baden, nachdem der Sepp mal wieder verloren hat.“ In einem Akt stiller Verzweiflung hat ihre Freundin die Scanner-Rechnung in lauter kleine Stücke zerrissen. 

Vom Westbahnhof aus kommt man nicht nach Caorle. Nach Baden auch nicht. Aber eine Massage könnte man hier bekommen, für zwei Euro. Erstaunlich eigentlich, dass das niemand macht. 

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