Tag 1 – Von Niederösterreich in die alte Handwerkstadt Kezmarok
8.30 Uhr, auf einer Tankstelle kurz vor Wien. Es sollte eine besondere Reise werden, nur wir vier, also meine Eltern, meine Schwester und ich. Keine Enkel oder gar Urenkel. Damit man einmal wieder über etwas anderes reden kann. Und sich noch einmal als Erwachsene neu kennenlernt.
Aber da ist kein Bus weit und breit. „Vielleicht stehen wir an der falschen Tankstelle?“, fragte ich. „Nein, hier, ich habe das schriftlich, mit Adresse“, sagte mein Vater und hielt mir einen Zettel vor die Nase. Immer noch ganz Manager, auch mit Anfang achtzig. Dann blickte er wie immer auf sein Handgelenk. „Oh nein, die Uhr ist stehengeblieben.“ Das war tatsächlich schlimm, denn mein Vater hat die Angewohnheit, wirklich oft auf die Uhr zu schauen. Das gibt ihm wohl einen Rahmen, eine Richtung. Meine Mutter war derweil verschwunden. Das ist ihre große Superkraft. Schon immer geht sie bedächtig, langsam. Dennoch schafft sie es, von einer Sekunde zur anderen zu verpuffen.
Als sie schließlich doch wieder hinter der Tankstelle um die Ecke bog, tat dies auch der Autobus. Es stiegen viele Leute aus, ähnlichen Alters wie meine Eltern, und alle marschierten in Richtung Toilette. Wir setzten uns auf die je zwei Plätze direkt vor dem Ausgang in der Mitte des Busses. Alle anderen Sitze waren besetzt von den Mitreisenden, meist Ehepaare, aber auch ein paar Freundinnen-Gruppen schienen dabei zu sein. Sie stammten aus der Nähe von Wels, wie wir später erfuhren.
Der Busfahrer begrüßte uns offiziell, nun war die Gruppe komplett. Sein Name war András, er sei eigentlich Ungar, aber sein Deutsch genügte ihm, sagte er. Dann lachte er über sich. Er stellte auch seinen Kollegen und Freund vor, der sei eigentlich Schuldirektor, aber weil nun Ferien waren, fahre er mit. Er freute sich schon auf die Reise in die Hohe Tatra, in die Slowakei, ganz in der Nähe der polnischen Grenze, sagte András. Dann las er uns von einem Zettel ab: „Die Hohe Tatra ist das höchste Gebirge der Slowakischen Republik – und ist zweifellos eines der schönsten Naturparadiese Europas. Dicht gedrängt befinden sich mehr als 30 Gipfel über 2.500 Metern, dazwischen finden Sie mehr als 100 zauberhafte Hochgebirgsseen, Wälder, Wasserfälle und Berghütten. Zwei Drittel der Hohen Tatra gehören zur Slowakei, ein Drittel zu Polen und in beiden Ländern steht sie unter besonderem Schutz der UNESCO.“
Dann erklärte uns András, er sei dort auch noch nie gewesen, daher hätte er auch keine Ahnung, wie man dahin komme. Er lachte wieder über sich und die alten Herrschaften im Bus lachten mit ihm.
Los ging die Fahrt, zunächst in Richtung Bratislava, vorbei an Trenčin, Žilina und Ružomberok in die Hohe Tatra und das Zipser Land. Stundenlang ging’s dahin. Wir begannen zu rätseln, wer von uns sich diese Reise ausgesucht hatte. Wir „Kinder“ bestimmt nicht, wir sind nicht so die Wanderer. Meine Mutter wollte es auch nicht gewesen sein und mein Vater meinte, er hätte in der Familie sowieso nie was zu sagen.
Während der öden Autobahnfahrt hatte ich die Gelegenheit, die Mitreisenden näher zu betrachten. Es waren durchaus rüstige Pensionistinnen und Pensionisten. Da war die Vierergruppe von sehr schicken Frauen, schmuckbehangen und mit abenteuerlichen Haarfarben für ihr Alter, sie lachten sehr viel. Eigentlich immer. Ein Pärchen war ungewöhnlich, weil zu der älteren Dame mit knallgelbem Haar ein nicht unwesentlich jüngerer Mann gehörte. Was es mit den beiden wohl auf sich hatte? Ihr Sohn? Betreuer? Lover? Direkt hinter meiner Schwester und mir saßen Josef und Margit. Josef war eindeutig glücklich, er bedankte sich ein paarmal bei Margit, dass sie mit ihm diese Reise machte. Ich fand das sehr nett von ihm. Nach der vierten Danksagung war es Margit zu viel, und sie meinte: „Is’ scho gut, Sepp.“
Danach machte er Bemerkungen zu fast jedem Auto, das zu erblicken war. Fachsimpelte, wie reparaturanfällig das Modell wohl wäre, und ihm waren damals in seiner Werkstatt die originalen Ersatzteile so wichtig. Schließlich polterte er über die schrecklichen Designs der neueren Modelle los, bis Margit sagte: „Is’ schon gut, Sepp.“ „Heute Abend zieh’ ich das schöne Hemd an“, sagte Sepp.
András, der Busfahrer, kündigte wieder eine Toilettenpause an, die alle zwei Stunden stattzufinden hatte. Diesmal war es aber aufregender, denn man konnte bei ihm vorab Würstchen bestellen. Sein Freund, der Schuldirektor, und er würden sie zubereiten, zur Auswahl standen Frankfurter und Debreziner mit Senf und Semmel. Kurze Zeit später fanden wir uns auf einem trostlosen Parkplatz wieder, mit Blick auf Autobahnbrücken und neben einem eingezäunten Spielplatz mit ehemaligen Wippen und so etwas wie einer Schaukel, schön gleichmäßig mit Rost überzogen. Wer seine Kinder liebt, schickt sie dort vielleicht nicht hin.
Der Schuldirektor rief zum Würstelessen, es entstand eine brave Warteschlange. Ich blickte mich um, meine Mutter war verschwunden. Wir fanden sie vor einem wirklich nicht gut aussehenden Salat in der Raststation sitzen. Sie aß ihn auf, denn sie hatte ihn bezahlt. Auf dem Rückweg zum Bus sah ich den Schuldirektor meiner Schwester nachstarren. Sie befand sich aber in ihrer Wunderwelt und bekam das wie immer nicht mit. So ist sie. Er flüsterte seinem Freund András, dem Busfahrer, etwas zu. Der blickte auch zu meiner Schwester und rief: „Igen!“ Ich überlegte mir, ob die wohl Viktor Orbán gut fanden und war daher provisorisch empört. So bin ich.
Weiter ging es über die Autobahn, die Gegend wurde lieblicher, nicht mehr so flach. Später, auf der Landstraße, wurde es sogar hügelig, man sah schöne Flüsse und Seen. Hübsche Holzhäuser säumten die Wege, dazwischen aber gab es die gleichen Architekturverbrechen, wie wir sie aus Niederösterreich oder dem Burgenland kennen. Fertigteilvillen mit Kunststofffenstern, aber ein Türmchen am Eck. Thujen, so weit das Auge reichte. Alles sehr sauber. Aber ein wenig ärmlich.
„Wie spät ist es?“, fragte ich schließlich. Mein Vater blickte bedauernd auf sein jetzt uhrenloses Handgelenk. „Zwei Sommersprossen nach dem Knöchel“, sagte er.
Die Zimmer im Hotel in Kežmarok waren einfach, aber hässlich. Ich fühlte ein vertrautes Unwohlsein.
Doch, diese schäbigen Pensionen, die kannten wir schon noch aus den 1970er-Jahren. Spannteppiche, ausgetreten, links ein Bett, rechts ein Bett, ein Tisch und aus. Die Bettwäsche war schon von IKEA, aber ganz kunstfertig an manchen Stellen gestopft oder mit Flicken übernäht. Das rührte meine Schwester und mich. Wir hatten einen Blick in den Hinterhof. Auf dem Dach gegenüber saßen wirklich viele Störche und klapperten. Wir freuten uns, dass wir unsere persönliche Familienplanung bereits abgeschlossen hatten, denn der Storchenauflauf hier war ein fatales Symbol.
Beim Abendessen wurden wir gesetzt, aber aus welchen Gründen auch immer weit weg von der Gruppe, die sich schon eifrig zuprostete. Sepp führte wie angekündigt sein schönes Hemd aus, es war blau mit Hawaiiblumen drauf, an den Ärmeln waren aber kleine Flammen. Margit hatte einen wirklich eleganten Anzug an und ihr Haar war schön geföhnt. Im Speisesaal war eine Unzahl an ausgestopften Tierschädeln an der Wand. Die Kellnerin verkündete freudig, dass wir hier im Schafskäseland seien. Mir war das nicht recht, ich esse keinen Käse, nie, er schmeckt mir einfach nicht. Danach gab es Suppe mit Schafskäse, Nocken mit Schafskäse und der Kuchen danach sah auch käsig aus. Meine Mutter gab mir Kekse von der Raststätte.
Tag 2 – auf Panoramafahrt durch die Hohe Tatra und ihre bekanntesten Orte inklusive Wanderung und Museumsbesuch
9 Uhr. Wir labten uns am Buffet, es gab Wurst, Würstel, Käse und Speck. Paprika. Harte Eier. Schafsmilchjoghurt. Der Kaffee kam aus einem Automaten und riss mir ein Loch in den Magen. Wir lernten dann Maria kennen, unsere Reiseleiterin. Sie war Slowakin und wohnte in der Gegend, Mitte vierzig, resolut, mit lustigen, rot gefärbten Haaren und blau blitzenden Augen. Sepp bemerkte laut, dass ihr Deutsch gut sei. „Des wird gut sein“, meinte Margit. „Des versteh’ ich besser als Slowenisch“, fügte Sepp hinzu. „Slowakisch“, sagte Maria. „Is’ des eigentlich Tschechisch?“, überlegte Sepp. „Is’ ja wuascht“, sagte Margit.
Dann begann die „Panaromafahrt“. Maria saß vorne neben András und erzählte von der Slowakei, dem Land zwischen Donau und Tatra. Zwei Drittel gehören zu den Karpaten. Ansonsten ist sie ein Teil der Pannonischen Tiefebene und ein kleiner Teil gehört zum Wiener Becken. „Schau, das freut mich, gehört uns auch ein bisschen was“, meinte Sepp. Überhaupt fand er, dass es dem Land gut ging, wirtschaftlich. Man würde das an den Fenstern sehen, alle hätten schöne Plastikfenster in den Häusern. „Najo, da haben sie eh schon lang nicht mehr geschossen“, meinte Margit.
Mein Vater blickte auf sein uhrloses Handgelenk. Wir näherten uns endlich der Hohen Tatra und lernten, dass es auch die Niedere Tatra und die Weiße Tatra gab. Und wir hörten von den Minderheiten, den ukrainischen, den russischen, polnischen, ungarischen, tschechischen und den Roma. „Na servus, da geht’s zu“, meinte Sepp.
Wir schafften es ohne Toilettenpause bis Starý Smokovec. Es ist die älteste Tatrasiedlung und hier wimmelte es von ganz außerordentlich schönen Villen vor der beeindruckenden Bergkulisse. Es war ein Skisportdorf, mit allem was dazugehörte. Auf Deutsch hieß der Ort „Schmecks“, er entwickelte sich an der Quelle des seit uralten Zeiten bekannten „Altschmeckser Sauerwasser“. Hier wurden Sauerwasserheilbäder angeboten. Sepp lachte sich kaputt über „Altschmeckser Sauerwasser“.
Mit der Standseilbahn wurden wir auf das kleine Hochplateau Hrebienok gebracht. Maria stapfte voraus, um eine einstündige Wanderung bis zu den berühmten Wasserfällen anzuführen. Meine Mutter ging sofort verloren. Ich beschloss, an Ort und Stelle zu bleiben, um nach ihr zu suchen. Außerdem waren überall Warnschilder vor den Bären in dieser Gegend, auf die hatte ich wenig Lust. Meine Mutter tauchte hinter einem der vielen Souvenirstände auf. Er war überladen mit lustigen Holztieren, Folkloreblusen und Michael-Jackson-Kühlschrankmagneten. Das Pärchen mit dem jüngeren Mann beriet sich gegenseitig am Schnapsstand. Wir hatten herausgefunden, dass die beiden nur eine Reisegemeinschaft waren, sie hatten sich online gefunden und reisten nun als Kumpels. In die Hohe Tatra. Die Dame dürfte dem Jungen aber bereits leicht auf den Senkel gehen, denn er blickte schon grimmig. Auch auf den Schnaps.
Zu Mittag kehrten wir in einem altehrwürdigen Restaurant ein. Wir bekamen wieder Schafskäsespeisen zu essen. Und Fleisch. Ich fühlte mich schon recht dünn, weil mir die Kost hier nicht so zusagte. Aber ich entdeckte das slowakische „National-Cola“, eine Limonade, die es schon lange vor dem echten Cola gegeben habe, erzählte uns Maria. Es hieß Kofola und schmeckte colaartig mit ein bisschen Zitrone. Nach dem ersten Grausen gewöhnte ich mich dran und wurde schließlich ganz süchtig danach. Den Rest der Reise trank ich nur noch Kofola. Ich habe es später noch einmal in Wien getrunken und war fassungslos. Man kann es anscheinend nur in der Slowakei ertragen.
Der Schuldirektor hatte einen Mutanfall, wenn auch einen kurzlebigen, er kam an unseren Tisch, sagte „Guten Appetit“ in Richtung meiner Eltern und ging wieder. Eine Gruppe junger Roma spielte „An der Nordseeküste“ und „Griechischer Wein“. Maria meinte, sie wären teilweise Studenten. „Also integrierte Roma“, fügte sie stolz hinzu. Die Dame des Pärchens mit dem jüngeren Mann tanzte plötzlich alleine vor allen Leuten, alle johlten und prosteten sich mit Bier zu. Ihr Reisebegleiter bat mich um eine Zigarette und war ganz verlegen, denn eigentlich rauche er seit fünf Jahren nicht mehr.
Wir lernten, dass es neben der Hohen Tatra auch die Niedere und die Weiße Tatra gab. Und wir hörten von den Minderheiten, den ukrainischen, russischen, polnischen und tschechischen – und von den Roma. „Na servus, da geht’s zu“, sagt Sepp.
Bei einem kleinen Verdauungsspaziergang bestaunten wir die prächtigen Villen und ganz unglaublich schöne Parkhotels. Alle wirkten recht abgewohnt, mit bröckelndem Verputz, hier ein kaputtes Fenster, dort ein abgesperrter Trakt. Aber liebevoll gepflegt, so weit es eben ging. Doch, man erkannte die frühere Blüte der Gegend als mondäner Kurort.
Später ging’s dann noch ins Nationalparkmuseum, in einem Bau, den man früher als ostblockmäßig beschrieben hätte. Die Vier-Damen-Gruppe unserer Reisegesellschaft konnte sich gar nicht beruhigen über die schönen ausgestopften Wölfe und Biber und Bären. Wir bewunderten eine Gedenkstelle für Bergsteiger aus der Gegend, die irgendwo im Himalayagebiet verschollen gegangen waren. Meine Mutter tat ebenselbiges, aber halt nicht im Himalaya, daher dauerte es ein wenig, bis wir weiterfahren konnten. Das Pärchen mit dem jüngeren Mann saß nun auf verschiedenen Bänken im Bus.
Zurück beim Hotel begannen wir, den Ort ein wenig zu erkunden. Es gab eine hölzerne evangelische UNESCO-Weltkulturerbe-Artikularkirche der Heiligen Dreifaltigkeit mit einer Kirchenorgel voller Holzpfeifen, auf die Maria besonders stolz war. Ihr Grundriss hatte die Form eines griechischen Kreuzes. Also, der der Kirche.
In der Nähe war ein Asia Shop. Meine Schwester und ich kauften eine ganz abscheuliche Herrenuhr um 7 Euro und schenkten sie meinem Vater, der sich ehrlich darüber freute. Bis zum Abendessen im Hotel suchten wir noch nach meiner neuerlich verschwundenen Mutter, sie war wohl einer anderen Reisegruppe nachgegangen. Mein Vater behauptete, er könne seinen Hals um 360 Grad drehen wie eine Eule, nach 50 Jahren Ehe mit meiner Mutter, in denen er ununterbrochen nach ihr Ausschau halten musste. Es gab dann etwas mit Käse zum Nachtmahl.
Tag 3 – Die Entdeckung des Zipser Lands mit der Zipser Burg, schönen Hauptplätzen sowie sakralen und weniger sakralen Sehenswürdigkeiten
9 Uhr. Abfahrt ins Zipser Land. Sepp hinter uns hatte sich schon ein Bier genommen: „Weil’s echt schon wuascht ist.“ Er diskutierte mit Margit, wie sie das in zwei Tagen bei der Abreise mit den Koffern machen sollten, ob er beide trägt oder sie ihren und er seinen. Und dass sie nicht vergessen durften, die Pässe aus den Koffern wieder in ihre Handtaschen zu tun. Sepp wurde immer nervöser. Margit kaufte ihm noch ein Bier. Mein Vater sah ununterbrochen auf seine hässliche Uhr. Maria erzählte uns von der Zipser Burg, die wir bald besichtigen würden. Diese war schon seit der Jungsteinzeit besiedelt, wir hörten von Mongoleneinfällen und Namen wie Ladislaus Postumus, was für einige Lacher sorgte, aber Maria sprach unbeirrt weiter.
Wir mussten ein Stück zur Burg hinaufgehen. Mir gefiel es dort ausgesprochen gut. Schafherden strichen herum; solange sie keine Milch gaben für den elenden Käse, fand ich sie allerliebst. Die Burg war von ganz eigentümlichen Steintürmen umstellt, wir konnten nicht in Erfahrung bringen, wozu die wohl gut waren. Sepp und Margit erwarteten uns schon im Burghof und schrien begeistert eine schöne Dame in einem langen weißen Kleid an, die als Kunstdarstellung bewegungslos herumstand. Vielleicht dachten sie, sie wüsste nicht, dass sie das tat. Wir gaben ihr ein paar Münzen und sahen uns um. Der Ausblick war atemberaubend, über das weite Land, mit den Bergen als Abschluss. Ein paar Leute wanderten noch ein Stück höher zum alten Teil der Burg. Ich blickte meiner Schwester nach, die sich der lustigen Vierergruppe an Damen angeschlossen hatte. Sie hatte den Schuldirektor im Schatten, der immer noch kein einziges Wort an sie gerichtet hatte.
Ich blieb unten beim Burgkiosk vor meinem Kofola und teilte es mit vierzig Wespen. Für ein paar Euro durfte man in einen kleinen Raum gehen, um sich einen zehnminütigen Film über die Zipser Burg anzusehen. Alle, die wieder herauskamen, sagten „sehr interessant“ und gingen dann auf die Toilette. Dann winkte uns Maria wieder weiter. Alle hatten es rechtzeitig in den Bus geschafft. Nach weiteren zehn Minuten konnten wir dann auch fahren, weil auch meine Mutter wiedergefunden worden war. Sie hatte sich oben bei der Burg den Film noch einmal angesehen.
Weiter ging’s in die Stadt Levoča, die als „funkelndster Stein in der Zipser Krone“ bezeichnet wird. Sie hat einen mittelalterlichen Stadtkern mit der Pfarrkirche des heiligen Jakobus, die zu den bedeutendsten Sakralbauten der Slowakei gehört. „Darin sehen Sie den spätgotischen Hauptaltar mit einer beeindruckenden Höhe von
18,60 Metern – der höchste Altar seiner Art auf der Welt“, rief Maria. „Na super!“, rief Sepp.
Am Hauptplatz, vor den schönen, alten Häusern, mit den kleinen Cafés, war es wirklich nett. Die Vierergruppe an Damen zwängte sich in eine Art Käfig, der in alten Zeiten aufgestellt wurde, damit man Frauen, die sich nicht gut benahmen, dort ausstellen und ächten konnte. Es gab von allen Seiten wirklich unflätige Bemerkungen dazu. Mein Vater blickte auf sein Handgelenk mit der Uhr drauf.
"No schau, heut’ hamma scho viel gsehen“, meinte Sepp im Bus. „Morgen a und übermorgen und dann hamma alles gsehn und dann brauchma herfahren auch nimma.“
Tag 4 - Nationalpark Pieniny an der Grenze zu Polen inklusive Floßfahrt und Romadörfer
9.00 Uhr. Neuerlich eine Panoramafahrt. Mir war langsam mulmig zumute, wahrscheinlich das viele Brot ohne Käse, das ich in den letzten Tagen gegessen hatte. Die Fahrt führte Richtung Pieniny Nationalpark, im Grenzgebiet zu Polen. Wir fuhren durch Dörfer mit Häusern in ganz typischer Holzbauweise. Maria erzählte von der streng katholischen Tradition in dieser Gegend und ihren kleinen Bauernhöfen, ganz sauber, alles ganz patent.
Dann kamen auch Romadörfer, wobei Barackensiedlungen da besser dazu gesagt wäre. Wenn eine Filmausstattung es so hingestellt hätte, wäre man versucht gewesen, zu sagen, so etwas sei nicht möglich heute, nicht in einem EU-Land. Dicke Mercedes neben Wellblechhütten. Viele Kinder, die herumliefen, und Erwachsene, die nur dasaßen.
Wir hörten über Projekte, die versuchten, die Roma in den Arbeitsmarkt zu integrieren, aber es schien, dass sich da kulturell zu viel nicht verträgt. Ich beschloss, das einmal besser nachzurecherchieren. Es war sehr bedrückend anzusehen. Sepp auf der Bank hinter mir begann über die Politiker zu räsonieren, lauter Verbrecher, sogar Lena Schilling, von der er dachte, endlich einmal eine Junge, Gescheite, Fesche. Alles Verbrecher. „Sei jetzt ruhig, Sepp“, sagte Margit.
In der Ortschaft Červený Kláštor gab’s das Kartusianerkloster „Rotes Kloster“, berühmt für seine Heilkunde, mit hübschem Klostergarten, in dem meine Mutter verloren ging. Für danach wurde uns eine wildromantische Floßfahrt auf dem Grenzfluss Dunajec versprochen, „die über mehrere Kilometer durch ein wahres Naturparadies führt. Nach jeder Flussbiegung eröffnen sich neue Ausblicke auf die herrliche Landschaft“.
So war es dann auch, wir fuhren durch ein enges Flusstal mit Ausblick auf riesige Felsen. Und zwar Floß an Floß an Floß. Man hätte wahrscheinlich zu Fuß über den Fluss gehen können. Der Schuldirektor blickte traurig zu uns hinüber, beinahe hätte er es in unser Floß geschafft, aber Maria hatte ihn umgesetzt. Beim Ausstieg war Sepp ein wenig grünlich im Gesicht, er sei nicht seetauglich, meinte er. Margit kaufte ihm ein Bier.
Tag 5 - Heimreise inklusive einer Weinverkostung bei Bratislava
8.00 Uhr. Heimreise. Maria verabschiedete sich von uns, wünschte uns eine schöne Heimfahrt und sammelte dann gar nicht wenig Trinkgeld ab. Meine Schwester und ich kauften beim Billa, den es dort gab, Fanta, das so aussah wie bei uns früher, so richtig orange und giftig. Wir mussten dann ein wenig warten, einer der mitreisenden alten Herren hatte eine Kreislaufschwäche, es kam sogar die Rettung. „Na, do muss i a ned sterbn“, meinte Sepp.
Die Heimfahrt verlief ruhig. Der Schuldirektor saß vorne neben András, dem Busfahrer. Gebrochen. Er hatte es nicht gewagt, meine Schwester anzusprechen. Die aber eh nichts mitbekommen hatte, die ganze lange Reise nicht.
Das Pärchen mit dem jüngeren Mann saß wieder nebeneinander, als Kumpels, und sie unterhielten sich freundlich. Die Vierergruppe Damen war ganz ruhig, ich glaube, sie hatten alle vier einen ziemlichen Kater. Mein Vater freute sich schon auf daheim und blickte alle paar Minuten auf seine Asia-Uhr. Meine Mutter und ich bewunderten die schöne Landschaft mit der Hohen Tatra im Hintergrund, die immer kleiner wurde.
Wir diskutierten, ob Landschaftsbeschreibungen in dem Umfang und dem Ausmaß, wie sie Karl May in seine Bücher geschrieben hatte, zumutbar waren. Sie sagte „Ja“, ich war nicht ihrer Meinung.
Ich freute mich über die Reise. Wir hatten viel über Banales gesprochen und auch über Wichtiges. Dazu kamen wir sonst selten.
Einen Zwischenstopp gab es noch, abgesehen von den Toilettenpausen. Keiner hatte Lust darauf, aber eine Weinverkostung bei Bratislava stand noch auf dem Plan. Laut Sepp waren die Weine von der Sorte Sauerampfer, Vollampfer und Todesampfer. Margit genierte sich. Niemand kaufte einen Wein. Wir beschlossen für uns, nun jedes Jahr eine Busreise mit Senioren zu machen. Besser ging es eigentlich nicht.
Bei Wien angelangt, bog der Bus wieder in unsere Tankstelle ein. Die Reisegesellschaft erhob sich geschlossen und ging auf die Toilette, immerhin hatte sie noch den langen Weg bis nach Wels vor sich.
András verabschiedete uns offiziell, mein Vater blickte triumphal auf seine Uhr und gab ihm ein gutes Trinkgeld. Der Schuldirektor blickte traurig irgendwohin, nur nicht zu meiner Schwester. „Pfiat Euch!“, rief Sepp. „Auf Wiedersehen heißt das“, sagte Margit, „die sind aus Wien.“
Erschienen in Fleisch #73 - HURRA, WIR LEBEN NOCH
20 Jahre FLEISCH
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