„Wir haben bei Haider aus viel zu geringem Anlass ein moralisches Theater gemacht.“

Fleisch 72, Herbst 2024       

Fleisch: Als wir auf dem Weg zu deinem Wochenendhaus in Brandenburg im örtlichen Edeka haltgemacht haben, hatten wir sofort den Drang, nachzusehen, wie der Ort bei der letzten Bundestagswahl abgestimmt hat, so gefährlich „dunkeldeutsch“ sieht es hier aus. Und wir waren ehrlich überrascht, dass hier die SPD vorne war.

Eva Menasse: Es ist hier wie in Österreich. Man kann es oft nicht genau sagen, warum ein Ort welche Parteien wählt. Denn wenn du einen geschickten Kandidaten hast, dann wählen sie ihn, egal, von welcher Partei er ist.

Du bist wegen des Jobs und der journalistischen Möglichkeiten nach Berlin gegangen. Viele andere zogen in den 90er-Jahren dorthin, weil die Stadt so viel freier war als Wien, internationaler, offener, wilder, mit Hausbesetzern und illegalen Clubs und dem räudigen Berlin-Style in diesen Jahren. Hat das für dich keine Rolle gespielt?

Intellektuell hat das auf jeden Fall auch eine Rolle gespielt, weil in Berlin einfach so viel los war. Das ist auch heute noch so. Berlin ist eine unfassbar nervige Stadt, manchmal wirklich unerträglich. Je älter man wird, desto weniger kann man fassen, was hier alles nicht funktioniert. Aber gleichzeitig ist eben doch die ganze Welt hier oder kommt immer mal wieder vorbei. Mich irritiert inzwischen, wie wenig divers Wien im Vergleich ist.

In Berlin regen sich die Leute mittlerweile darüber auf, dass es Lokale gibt, wo du nur noch auf Englisch bestellen kannst.

Aber das liegt nicht daran, dass uns die Engländer oder die Amerikaner kolonialisiert hätten, sondern daran, dass hier so viele internationale junge Menschen leben, die zwar kellnern, aber nicht Deutsch können. Berlin ist mittlerweile ein Moloch und ein unüberschaubares Gebilde, aber ich habe immer noch das Gefühl, dass man hier im Zentrum sitzt, an der Schaltstelle. Man sieht hier ja auch viele soziale Entwicklungen früher als anderswo. Deutschland ist insgesamt ein viel krasseres Land als Österreich.

Deutschland ist krasser?

Ja. Alles ist krasser, auch die Nazis sind in Deutschland viel krasser. In Österreich haben wir die FPÖ, und ich weiß gar nicht, wann sie zuletzt bei Wahlen weniger als 18 Prozent der Stimmen bekam, mittlerweile liegt sie ja deutlich drüber. Aber trotzdem wirken die Partei und ihre Wähler für mich nicht gleich bedrohlich oder gewalttätig wie die Rechten in Deutschland.

Jörg Haider hat die FPÖ vor mittlerweile fast 40 Jahren übernommen und auf einen aggressiv rechten Kurs getrieben. Liegt es also vielleicht daran, dass wir uns an den Wahnsinn einfach gewöhnt haben?

Das glaub’ ich nicht. Ich sehe die Entwicklung natürlich auch sehr kritisch, aber man muss schon sagen: So Springerstiefel-Typen, Skinheads und echte Hooligans, die sich im Wald ihre Schlachten liefern, die hatten wir in Österreich einfach nie.

"Ja. Alles ist krasser, auch die Nazis sind in Deutschland viel krasser."


Na ja, es wurden in den 90er-Jahren Rechte verurteilt, die Wehrsportübungen in Niederösterreich abgehalten haben, und die Fotos von HC Strache beim angeblichen Paintballspielen in Tarnkleidung kennen wir auch alle. 

Ja, stimmt, aber ich glaube trotzdem, dass die Gewaltbereitschaft in Österreich eine andere ist und war als in Deutschland. Vielleicht bin ihc da aber auch auf dem Holzweg.

Weil du in Deutschland bist und nicht mehr alles aus der Nähe mitbekommst?

Ich habe immer noch das Gefühl, dass ich Österreich besser einschätzen kann als Deutschland, also vor allem die Wiener. Mit dem deutschen Osten tu’ ich mir da sehr viel schwerer. Die Ausprägung von Gewalt ist dort aber definitiv eine andere und sie nimmt wieder zu, auch gegenüber Lokalpolitikern, was eigentlich unvorstellbar ist.

Gibt’s das nicht mittlerweile auch überall?

Da sind wir jetzt in dem typischen Talk-Show-Dilemma: Es gibt gesamteuropäische Entwicklungen, ja, aber es gibt immer trotzdem nationale und regionale Spezifika. Ich weiß nicht genau, wie das in Österreich ist, weil ich mich damit nicht mehr so genau beschäftige. Aber dass irgendwelche Leute sich mit Fackeln um das Haus eines Bürgermeisters sammeln oder dass ein Mob versucht, eine Fähre zu blockieren und sogar zu stürmen, weil darauf ein Politiker wie Robert Habeck ist, das sind schon neue Entwicklungen. Und sie sind gruselig. Ich halte auch den Mord an Walter Lübcke nach wie vor für ein Fanal und ich finde das vielzitierte Schweigen dazu schrecklich.

Der Mord an Lübcke ist und war doch immer wieder Thema, oder nicht?

Ich habe das Gefühl, dass er viel zu wenig ernst genommen wurde, er ist der Politik und der Öffentlichkeit nicht so eingefahren, wie er es hätte sollen. Das war eine Zäsur. Lübcke hat trotz Gegenwind öffentlich etwas wirklich Anständiges zur Flüchtlingspolitik gesagt. Das Video dazu wurde dann über Jahre immer wieder geteilt, immer wieder haben es Rechte zur Wiederauflage neu reingespielt in die sozialen Medien, bis endlich einer hingeht und Lübcke auf seiner Terrasse erschießt.

Wie hätte die Öffentlichkeit reagieren sollen?

Mit viel größerem Entsetzen. Mit einer viel spürbareren Reaktion der Politik. So etwas hat es doch in Deutschland seit der RAF nicht mehr gegeben! Aber man war nur kurz entsetzt, warf einen Kranz ab, und am nächsten Tag lief alles im Normalbetrieb weiter.

Es ist auch in Österreich immer gleich wieder Normalbetrieb, wenn mal wieder etwas passiert, einer von den vielen Fällen, die die FPÖ dann als Einzelfälle definiert. Der Mann, der in einer Burschenschaft ist, in der niemand die grauslichen Liederbücher verräumt, bis sie zum Skandal werden, ist heute Landeshauptfrau-Stellvertreter in Nieder­österreich.

Und genau das ist ein spannender Punkt: Wann sagen wir als Gesellschaft etwas? Und wie laut sind wir dabei? Auf einen Mord aus politischen Motiven muss man anders reagieren als auf irgendwelche Provokationen, wie blöd auch immer sie sind. Wir sind immer sehr schnell sehr laut, und ich frag’ mich manchmal, ob wir nicht früher schon aus viel zu geringem Anlass ein moralisches Theater gemacht haben.

„Früher“ wird in Österreich gerne mit dem Lichtermeer verbunden, als 100.000ende gegen Jörg Haiders „Österreich zuerst“- Volksbegehren demonstrierten. Du meinst, das war überzogen?

Es hat auf jeden Fall das, was danach kam, nicht verhindert. Ich weiß es ja auch nicht, aber vielleicht ist es wie mit dem Frosch und dem Topf. Wenn man ihn ins heiße Wasser schmeißt, dann versucht er, irgendwie rauszukommen. Aber wenn man ihn ins lauwarme Wasser setzt und nach und nach die Temperatur erhöht, dann bleibt er und stellt sich immer wieder auf die neue Temperatur ein, so lange, bis er stirbt. Also wie geht man richtig um mit Rechts? Natürlich war Haiders Ausländer-Volksbegehren eine Mega-Provokation, es hat zu Recht viele Menschen politisiert und war eine moralische Sauerei. Aber ich glaube nicht, dass Haider damals den Staat schon so umbauen wollte, wie es die Rechten heute wollen. Definitiv sind sie professioneller geworden, effektiver, in Deutschland genau wie in Österreich. Früher sind sie auf den Küniglberg gefahren und haben versucht, die „Zeit im Bild“-Redaktion zu stürmen, weil ihnen was nicht gepasst hat. Das war impulsiv, aber nicht sehr strategisch gedacht. Heute wissen sie, wie sie den Staat umbauen müssen, damit man sie nicht mehr so schnell wegbekommt.

In Deutschland kam eine Partei wie die FPÖ lange überhaupt nicht auf.

Ja. Aber in Österreich ist sie in die Regierung gekommen, und nicht nur einmal. Dankenswerterweise hat sie sich aber immer auch selbst wieder zerlegt. Sie an die Macht kommen zu lassen und darauf zu vertrauen, dass es sie aufstellt, ist übrigens die einzige Maßnahme gegen Rechts, die bisher manchmal funktioniert hat. Alle anderen, von den Demonstrationen über das Lichtermeer bis zum Ignorieren, haben nicht funktioniert.

Wir tun uns schwer damit, das zu akzeptieren.

Aber vielleicht sollten wir es. Vielleicht sollten wir die AfD in Thüringen und Sachsen mal in eine Landesregierung lassen und nicht sofort die sprichwörtliche Brandmauer bilden. Vielleicht sollten wir dieses Experiment mal durchlaufen lassen, in einem überschaubaren Teil des Landes, also nicht gleich im Bund, vielleicht ersparen wir uns dann, dass sie irgendwann mal auf Bundesebene in einer Regierung sitzen wie in Österreich. Das ist natürlich ein skandalöser Gedanke, aber in Österreich war es eben bisher immer so: Die FPÖ kam in die Regierung und hat dem Land massiv geschadet, aber in zwei bis vier Jahren war es immer vorbei. Ich weiß natürlich nicht, wie das heute und in Deutschland wäre. Garantien, dass das funktioniert, gibt es keine mehr.

Man sieht in Ungarn, wie wenig es diese Garantie gibt, wenn jemand bereit ist, den Staat wirklich umzubauen und die demokratischen Institutionen auszuhebeln.

Auch in der Türkei ist ein Autokrat in einem ganz anderen Ausmaß durchmarschiert und macht es verdammt schwer, ihm seine Macht wieder wegzunehmen.

Brandmauern sind nur dann sinnvoll, wenn man sich nicht sofort in dem Moment, in dem man sie errichtet, zurücklehnt und weitermacht wie davor. 


In Polen hingegen ist es heuer gelungen, die Autokraten wieder zu stürzen.

Indem sich alle anderen Parteien zusammenschlossen, so wie es jetzt auch in Frankreich gelungen ist, Le Pens Erfolg zu beschränken.

Wir haben in Europa gerade eine Reihe dieser Brandmauern, aber sind sie wirklich eine Dauerlösung?

Brandmauern sind prinzipiell nur dann sinnvoll, wenn man sich nicht sofort in dem Moment, in dem man sie gebildet hat, zurücklehnt und weitermacht wie davor. Eine Brandmauer hat längerfristig nur dann eine Chance, wenn man das, was hinter der Mauer brennt, nicht ignoriert, sondern löscht, und diese Löschversuche passieren in Deutschland und Österreich nicht.

Woraus besteht denn das Feuer, von dem die rechten Parteien oder jetzt auch Sahra Wagenknecht in Deutschland so gut leben?

Es gibt den ganzen Bereich von Immigration, Migration und Asyl, der einerseits schlecht funktioniert, andererseits unlauter zum Kampfthema aufgeblasen wird. Es ist wirklich schwer zu vermitteln, dass Menschen, die um Asyl ansuchen und straffällig werden, nicht abgeschoben werden - obwohl eben manchmal internationales Recht dagegensteht. Aber nicht in allen Fällen. Gleichzeitig dauern alle Verfahren viel zu lange. Und es reicht auch nicht, zu sagen, dass Menschen Asyl bekommen sollen, sondern man muss sich auch glaubwürdig darum kümmern, dass es funktioniert. Aber wir brauchen die Einwanderung so dringend, das sieht man schon jetzt in vielen Berufen, besonders im Gesundheitsbereich.
Wir hatten mit dem PEN Berlin letztens eine Diskussionsveranstaltung organisiert: Was hilft gegen die AfD? Eigentlich sollte es heißen: Wer hat das verkackt? Solange vieles schiefläuft und das, was gut funktioniert, nicht gut beworben wird, nützen verbale Brandmauern rein gar nichts. Denn wenn dann in vier, fünf Jahren wieder nichts deutlich anders wird und die Leute das Vertrauen in den Staat nicht zurückgewonnen haben, sondern das Gefühl haben, zurückzubleiben, dann nützen Brandmauern nichts. Brandmauern schenken nur Zeit. Wenn es dahinter weiter brennt, schmelzen sie irgendwann genauso.

Das ist ein sehr präzises Bild, und der Vorwurf gilt ja auch für Österreich bis zu einem gewissen Grad. Man hat die FPÖ schon ein paarmal verhindert, aber es nicht geschafft, ihre Wähler von anderen Parteien zu überzeugen. Um ein Thema wie die Migration haben sich offenbar alle zu wenig gekümmert. Jetzt greifen es die anderen Parteien dafür in Österreich mit der Härte der FPÖ und in Deutschland mit der Härte der AfD auf. Ist das die Lösung?

Man merkt eine gewisse Hilflosigkeit und das ist sicher der falsche Weg. Wenn Politiker durch Überforderung aggressiv werden … Es braucht im Gegenteil wieder Kampagnen wie „I haaß Kolaric, du haaßt Kolaric – warum sogen’s zu dir Tschusch?“

Es ist vielleicht auch alles sehr gut eingespielt: Wenn sich Herbert Kickl „Volkskanzler“ nennt, provoziert er damit. Er weiß, dass er einen Goebbels-Begriff verwendet, und kann sich darauf verlassen, dass sich genau deswegen die halbe Republik aufregt und so seine Message immer weiterträgt.

Es hat eine Verschiebung ins Symbolische stattgefunden, die dem ganzen Politikbereich überhaupt nicht gutgetan hat. Man spult sich an einzelnen Worten auf. Aber was soll es bringen, zu sagen, dass der Kickl jetzt eben wieder so ein arges Wort benutzt? War doch immer so, stört seine Wähler offenbar null. Gleichzeitig gibt es ja Beispiele dafür, dass es funktioniert, diese Rechten auf Basis ihrer Politik zu stellen oder anhand ihrer Pläne.

Gelingt das wirklich so gut? In den deutschen TalkShows mit den AfD-Vertretern wirkte das anders.

Im Streitgespräch zwischen Mario Voigt und Bernd Höcke stieg Voigt mit einem Punktesieg aus, indem er auch Schlüsselworte wie Heimat aufgriff, es aber schaffte, sie ohne völkische Untertöne positiv zu benutzen.

Du glaubst, man kann die Politiker der AfD oder von der FPÖ sehr wohl besser stellen, als das bisher geschieht?

Also der Höcke ist ja kein Genie, natürlich kann man das.

In Deutschland ist ja die Frage aufgetaucht, ob man ihnen mit den Fernsehdiskussionen nicht eine zu große Bühne gegeben hat.

Also wenn knapp 30 Prozent diese Partei wählen, dann haben diese 30 Prozent auch ein Recht, ihre Kandidaten im Fernsehen zu hören. Das darf man weder einschränken, noch auch nur den Anschein erwecken. In Deutschland geschieht das bei manchen Themen aber durchaus, und ich halte das für falsch und gefährlich.


Als wir uns ein paarmal sehr lange mit Eva Menasse trafen, um über all das zu reden, weshalb wir uns sonst den Schädel einschlagen, ist daraus ein ganzes Interview-Heft entstanden. Das ist ein Auszug daraus.
Erschienen im Herbst 2024.

Das Einzelheft gibt's um 8 Euro unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

FLEISCH VERLAG GMBH
HOLLANDSTRASSE 14/TOP 17B
1020 WIEN
 

TELEFON
0043 1 2360 544

FAX
0043 1 2360 544-9

MAIL
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!