Irgendwo in der Mitte

Fleisch 61, Herbst 2021 
Text: Superfleisch                           

Ein kleiner Aufsatz über die Sehnsucht danach, dass zwischendurch auch mal was stimmt.

Wenn am Samstag über Wien mal wieder der Hubschrauber kreist, ist klar: Sie sind wieder da. Die Menschen, die Corona für eine Erfindung und die Impfung entweder für einen teuren Gag oder für eine Todesspritze halten, legen die Innenstadt lahm, klagen über die Politik, die Medien, die Lemminge der sogenannten Mehrheitsmeinung, denn sie alleine wissen: In Wahrheit ist alles ganz anders. 

Diese Glücksritter haben ihre Informationen von ein paar Leuten im Internet bekommen, denen sie aus den absurdesten Gründen glauben, auch wenn ihre Prognosen nicht eintreffen und geimpfte Menschen zum Beispiel immer noch leben, obwohl längst Oktober ist – bis September sollten wir ja alle gestorben sein. 

Menschen, die aus ihrer Garage heraus das irrste Zeug behaupten, haben wahrscheinlich einen Knall, ganz sicher aber ein ziemliches Selbstbewusstsein. Bei den Menschen, die ihnen glauben, ist es meistens andersherum. Am gefährlichsten sind aber jene, die beides gut kennen und sehr geschickt darin sind, den Wahnsinn nicht ganz so radikal zu formulieren, den Verunsicherten aber trotzdem eine alternative Wahrheit anbieten. 

Mit der Wahrheit ist es so wie mit vielen Dingen: Wir wollen sie, aber wir wollen sie gleichzeitig auch nicht. Wir suchen nach ihr, weil wir ständig belogen werden, noch mehr natürlich, seit es das Internet gibt und dadurch zig Millionen von Möglichkeiten, einfach irgendetwas zu behaupten, Videos zu fälschen und mit Künstlicher Intelligenz völlig glaubwürdige Bilder von Menschen zu erschaffen, die gar nicht existieren.

Verschwörungsmythen funktionieren immer dann besonders gut, wenn die Überforderung deutlich und die Lage unübersichtlich ist. Dann ist man plötzlich offen für Erklärungen, die behaupten, das Große und Ganze verstanden zu haben und nicht nur das Stückwerk, mit dem wir uns etwa von den ersten Abstandsregeln und Tests über die Desinfektion ganzer Städte bis zu halbwegs sinnvollen Quarantäneregeln und, thanks, science, zu einer funktionierenden Impfung durchgehantelt haben. Bei all dem Chaos ist es auf verquere Art beruhigend, zu glauben, dass Bill Gates und die Pharmaindustrie hinter allem stecken, mit einem Plan und den Zügeln in der Hand. 

Die Wahrheit ist für manche also zunächst einmal einfach das, was die bessere Geschichte ist. 

Eine verdammt gute Geschichte war zum Beispiel auch die von Österreich als erstem Opfer der Nationalsozialisten, sie hat eine ganze Tonne von Widersprüchen einfach niederbetoniert und man konnte glauben, was man sehr viel lieber glauben wollte gleich nach dem Krieg: Ein größerer Plan ist über allem gestanden und Österreich war nur eine Spielfigur von vielen. Ein paar Menschen erinnerten sich dann doch noch daran, wie es wirklich gewesen war, räumten den Dreck weg und da war sie dann, die Wahrheit, vielleicht tat sie ja ein paar Jahre später dann nicht mehr ganz so weh.  

Mit der Wahrheit ist es so wie mit vielen Dingen: Wir wollen sie, aber wir wollen sie gleichzeitig auch nicht. Wir suchen nach ihr, weil wir ständig belogen werden, noch mehr natürlich, seit es das Internet gibt und dadurch zig Millionen von Möglichkeiten, einfach irgendetwas zu behaupten, Videos zu fälschen und mit Künstlicher Intelligenz völlig glaubwürdige Bilder von Menschen zu erschaffen, die gar nicht existieren. Wer ein bisschen instabil ist, kippt schnell einmal in die Vorstellung hinein, nichts mehr glauben zu können. Und keinen Einfluss darauf zu haben, was irgendeine komische Elite da treibt.

Blöderweise wird die Wahrheit, wenn wir sie dann aber doch finden, schnell einmal anstrengend. Es ist nicht mehr ganz so einfach, sein tägliches Schnitzel zu essen, wenn man einmal die ungeschönten Bilder aus dem Schweinestall gesehen hat. Manchmal zwingt uns die Wahrheit sogar, zuzugeben, dass wir uns in einem Menschen getäuscht haben. Dafür muss übrigens wirklich sehr viel passieren, denn wir sind darauf gepolt, an unseren Einschätzungen, die sich irgendwann eingebrannt haben, ziemlich lange festzuhalten (Sebastian Kurz approves this message). Wir sind tendenziell sogar Marken gegenüber erstaunlich loyal: VW, zum Beispiel, hat noch nie so viele Autos verkauft wie direkt, nachdem aufgeflogen ist, dass sie es mit der Wahrheit bei den Abgasen nicht ganz so genau genommen haben. Die Wahrheit zu kennen, bedeutet also nicht unbedingt, dass sich deshalb etwas ändert (Grüße gehen raus in den Raucherhof von Wolfgang Mückstein und Alexander Van der Bellen).

Wer hunderttausend Mal die gleiche Geschichte erzählt, zum Beispiel die von der bösen Opposition oder von den linken Zellen in der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft, kann nicht lügen. Das hält doch niemand durch. 

Wir haben sogar gelernt, dass wir gar nicht immer die nackt­e Wahrheit kennen müssen, um zurechtzukommen, denn einiges können wir mit unserer Erfahrung lösen: Bei jeder Zahl, die der Großonkel ins Gespräch einwirft, ziehen wir mindestens 30 Prozent ab, weil wir seinen Hang zur Übertreibung kennen. Bei Werbung ist es noch mehr (zumindest glauben wir das). Wir wissen, was die Versprechen vor der Wahl nach der Wahl wert sind und auch, dass die wirklich harten Sachen nicht unbedingt bekannt werden, solange wir unser Kreuz noch nicht gemacht haben. Wir wiegen dann ab, was wir von wem erwarten, wir arbeiten also mit Wahrscheinlichkeiten, auch wenn wir das in der Schule nie wirklich verstanden haben.

Und sonst verlassen wir uns darauf, dass die Wahrheit immer irgendwo dazwischen liegt: Ist es zu wild, um wirklich wahr zu sein, wird wohl trotzdem irgendetwas dran sein. Klingt es hingegen zu gut, rechnen wir lieber mit weniger und lassen uns dann positiv überraschen. Wir vermuten also Übertreibungen und Unterschlagungen, Verzerrungen und Verschiebungen – aber die blanke Lüge, die vermuten wir erstaunlicherweise nie. Das gilt für das, was die ÖVP über die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft sagt genauso wie für den Sixpack, den der Anton auf seinem sichtlich bearbeiteten Tinder-Profilbild ausstellt: Ganz falsch wird das schon nicht sein. Das trauen die sich doch nicht. Die lügen doch niemandem mitten ins Gesicht. Wer hunderttausend Mal die gleiche Geschichte erzählt, zum Beispiel die von der bösen Opposition oder von den linken Zellen in der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft, kann nicht lügen. Das hält doch niemand durch. 

So viel Grundvertrauen ist in unsere Gesellschaft, die Politik und die Institutionen da. Zumindest bei denen, die samstags nicht gegen die Impfung demonstrieren oder sonntags, wie in Oberösterreich, einen Querulantenhaufen auf sechs Prozent bringen. Wäre gut, wenn es nicht zerbricht.   


Erschienen im Herbst 2021. Fleisch 61 – Wahrheit – ist bestellbar im Abo oder als Einzelheft unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! 

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